Männerchor

hat zur Zeit keine eigene Singstunde.

Das 175jährige Vereinsjubiläum des Liederkranzes Murrhardt bietet Gelegenheit zu einem angesichts der sängerischen und organisatorischen Leistung vieler Sänger-, Vorstands- und Chorleitergenerationen und vor allem angesichts der kulturellen Bedeutung des Liederkranzes in Murrhardt wohlwollenden Rückblick in die Vergangenheit, ist aber noch mehr Verpflichtung zu einem kritischen, fragenden Ausblick in die Zukunft des Vereines.

Was das gute Dutzend Murrhardter Bürger, darunter Handwerksmeister und andere Selbstständige, Kaufleute und Beamte, aber zunächst noch nicht der einfache Mann aus dem Volk, um Vorstand Schlossermeister Ferdinand Nägele dazu bewogen hat, am 11. Juli 1829 im „Waldhorn“ einen Liederkranz zu gründen, kann man 175 Jahre später zumindest teilweise noch nachvollziehen.
Freude am Singen, insbesondere in der Gemeinschaft, Suche nach Kameradschaft und geselliger Unterhaltung, eine sinnvolle, Freude bereitende Freizeitbeschäftigung, man könnte auch vom Wunsch nach einer besseren Lebensqualität sprechen, machten sicher einen Großteil der Motivation aus. Abschalten und Abwechslung in einem mühseligen, arbeitsreichen, sorgenvollen, vom Kampf ums tägliche Brot bestimmten Alltag. In der Festzeitung zum 50jährigen Jubiläum im Jahr 1895 (*) ist allerdings festgehalten, dass der „Schlosser Nägele“ 1829 einen Gesangverein mit politisch gleichgesinnten Freunden gegründet habe, bei dem das Singen nur Mittel zum Zweck gewesen sei. Eigentlicher Anlass für die regelmässigen Zusammenkünfte der Sänger sei vielmehr der Wunsch gewesen, den freiheitlichen Elementen der Stadt Gelegenheit zu geben, miteinander zu diskutieren und politisch zu streiten. Daß dies sicher nicht nur in Murrhardt so war, dafür spricht auch, dass die Obrigkeit in Gestalt der königlich württembergischen Regierung in Ludwigsburg um die Mitte des 19. Jahrhunderts sehr strenge Verhaltensmaßregeln für die neu gegründeten Vereine herausgegeben hatte. Das Singen ist aber offenbar doch nicht zu kurz gekommen, denn schon in den dreißiger Jahren trat der junge Verein bei schwäbischen Liederfesten als Männerchor und, man höre und staune auch als Gemischter Chor auf. Die Liste der Motivationen wäre aber unvollständig und vielleicht sogar nicht ganz ehrlich, würde man nicht erwähnen, dass auch handfeste geschäftliche Interessen den einen oder anderen veranlassten, einem oder gar mehreren Vereinen als Aktiver oder als förderndes Mitglied beizutreten. Vereinsmitglieder, in unserem Fall Sängerkameraden, waren schon immer gute und treue Kunden – warum eigentlich nicht ? !
(*) Noch bis in die Zeit nach 1920 galt das Jahr 1845 als eigentliches Gründungsjahr des Liederkranzes, weil in diesem Jahr die Vereinsfahne gestiftet und geweiht worden sei. Diese Annahme war jedoch falsch, denn in einem späteren Bericht des Stuttgarter Neuen Tagblatts von der Einweihung des Nürnberger Sängermuseums wird auch die Fahne des Murrhardter Liederkranzes von 1839 als sehr kostbares Erinnerungsstück erwähnt. Richtiger dürfte dagegen die Vermutung sein, dass die „1895er“ mit den „Revoluzzern von 1829“ nicht im gleichen Boot sitzen wollten. Sie bezeichneten diesen Ur-Liederkranz von 1829 in der oben erwähnten Festzeitung daher bewusst nicht als Liederkranz, sondern als „ältesten singenden Verein Murrhardts“.
Gleichzeitig mit dem Männerchor wurde erstaunlicherweise auch ein Gemischter Chor gegründet, im Jahre 1835 sangen 16 Männer und 15 Frauen. Dies war in der damaligen Vereinssatzung so auch festgelegt. Damit waren die Mitglieder dieses jungen Vereines ihrer Zeit um gut 100 Jahre voraus, setzte doch erst Mitte des 20. Jahrhunderts, also in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg die große Gründungswelle für Frauenchöre und Gemischte Chöre ein. Allerdings ist auch überliefert, dass dieser Gemischte Chor das Wiedergründungsjahr 1845 wohl nicht überlebt hat. Fortan war nämlich für sehr lange Zeit von einem Gemischten Chor nicht mehr die Rede. Erst um 1920 berichtet die Murrhardter Zeitung von verschiedenen Weihnachtsfeiern des Liederkranzes, bei denen offenbar wieder ein Gemischter Chor mitgewirkt hat.
Ein Nachteil, sozusagen ein bis in unsere Tage reichendes G´schmäckle haftete vielen Gesangvereinen, so auch dem Liederkranz Murrhardt aber doch an. So bestanden im 19. Jahrhundert die Gründergeneration und auch die nachfolgenden Mitgliedergenerationen vieler schwäbischer Gesangvereine fast ausschliesslich aus der gehobenen Bürgerschicht, aus den Honoratioren einer Gemeinde. Zum Glück änderte sich dies im Laufe des 20. Jahrhunderts. Jetzt schlossen sich auch Bürger aus der Arbeiterschicht der Sängerschar an. So war es für den Männerchor des Liederkranzes und somit für die Sängerbewegung in Murrhardt sicher ein einmaliger Glücksfall, dass sich zur Singstunde am 23. August 1933 10 Mitglieder des ehemaligen Murrhardter Arbeiter-Gesangvereins „Frohsinn“ im Singstundenlokal „Sonne Post“ einfanden, um in der darauffolgenden Chorprobe auf Betreiben von Vorstand Gustav Rössle, von den Murrhardtern auch Sparkassen-Rössle genannt, und nach einstimmigem Beschluss des Vereinsausschusses ohne Abstimmung und ohne Aufnahmegebühr aufgenommen zu werden. Dies war angesichts der damaligen Mitgliederstruktur keineswegs eine Selbstverständlichkeit, dafür aber umso mehr eine wegweisende, kluge Entscheidung.
Nachdem die Chorproben bis zum großen Feuer im Jahre 1902 im Gründungslokal „Waldhorn“ der Familie Kühnle abgehalten worden waren, war es für den Liederkranz ein besonderer Glücksfall, dass zunächst der Männerchor und mehr als ein halbes Jahrhundert später auch der Frauenchor und der Gemischte Chor den Saal der „Sonne Post“ als ständiges Übungslokal von der Familie Bofinger zur Verfügung gestellt bekam. Welcher Gesangverein fand sein Übungslokal damals schon so perfekt hergerichtet vor. Im Sommer gelüftet, im Winter beheizt, betischt oder bestuhlt, Flügel in Position usw. usw. Der Liederkranz blieb für lange Zeit gern gesehener Gast in der Sonne Post und man ist den Brüdern Helmes und Bertle Bofinger, deren Ehefrauen Inge und Erika und den Bofinger-Generationen davor heute noch dankbar für diese einmalige Gastfreundschaft. Ungezählte Stunden bei Wein und Gesang, bei kleiner und großer Politik verbrachten die Sänger nach der Chorprobe in den gastlichen Räumen ihrer Sonne Post. Es soll sogar vorgekommen sein, dass für manch einen mit besonders gutem Sitzfleisch die Singstunde erst beim Sonnenaufgang zu Ende ging. Kam einer der Sänger schon mal vor Mitternacht nach Hause, musste er mit der erstaunten Frage seiner Gattin rechnen: „Ja habt ihr denn heute Streit gehabt ?“ Daß die Chöre des Liederkranzes nach dem Umzug im Jahre 1983 ins Probelokal in der Stadthalle inzwischen wieder im Saal der Sonne Post, jetzt Alte Post genannt und im Besitz der Stadt Murrhardt befindlich, ihre Singstunden abhalten können, stellt für den Liederkranz eine besonders glückliche Fügung dar. Man ist sozusagen zu den eigenen Wurzeln zurückgekehrt.
Welche Motivation hat ein Sänger, warum sollte man sich gerade heute dem Männerchor, dem Liederkranz überhaupt anschliessen? Freude an der Musik, am Singen, erst recht unter Freunden? Ja! Kennenlernen alter und neuer, klassischer und moderner Chorliteratur? Da ist man beim Liederkranz genau richtig! Gelungene Aufführungen von Operetten oder Musicals in einer ausverkauften Festhalle? Toll, schon beim Gedanken daran kriegt man eine Gänsehaut! Kameradschaft und gesellige Unterhaltung? Ja! Ausflüge mit dem Liederkranz, z. B. der jährliche Halbtagesausflug des Männerchores in die schwäbische Kultur- oder Industrielandschaft mit Einkehr in eine urige Besenwirtschaft? Im letzten Jahr bei der Daimler-Benz-Betriebsbesichtigung waren sage und schreibe 48 Männer dabei! Teilnahme am Halbjahresabschluss vor den Sommerferien oder an der vom Frauenchor so schön und stimmungsvoll gestalteten Weihnachtsfeier? Da geht man natürlich gerne hin! Mitschaffen beim alljährlichen Maibaumfest auf dem Murrhardter Marktplatz? Klar, ist doch Ehrensache. Außerdem kommt dabei auch das Feiern nicht zu kurz! Dies alles gehört zur Kür eines Liederkranz-Sängers. Aber, wie sieht ´s mit den Pflichten aus? 40 oder noch mehr Singstunden pro Jahr. Trauer und Gedenken beim Grabgesang und Abschiednehmen von einem guten Sängerkameraden oder beim Singen zum Volkstrauertag. Sängerfeste mit Gesang in überfüllten, grölenden Festzelten und Teilnahme am Festzug bei 40 Grad in der Sonne. Mitarbeit im Ausschuß oder in der Vorstandschaft des Vereines. Das Abwägen von Kür und Pflicht bringt ein eindeutiges Ergebnis. Singen und Mitwirken beim Liederkranz bereitet sehr viel Freude, obwohl es doch so ein großes Freizeitangebot mit weniger Verpflichtungen und mit geringerem Zeitaufwand gibt. Sport, Fernsehen, Lesen, Fahrradfahren, Gartenarbeit, Reisen, Jetten im Internet und und und.
Hier sind wir an einem ganz entscheidenden Punkt angelangt. Viele wollen einen Ausgleich zum stressigen Arbeitsalltag, aber nicht auch noch ein zeitaufwändiges und Verpflichtungen mit sich bringendes Hobby. Die Spezies Sänger(in) unserer heutigen Zeit muss noch mehr als in früheren Zeiten einen kräftigen Schluck aus der Pulle Idealismus genommen haben, ist anspruchsvoller und kritischer geworden gegenüber der Musik, die Medien schüren diesen Anspruch ja Tag für Tag, und erwartet daher nach wie vor die traditionelle, immer mehr aber zeitnahe, moderne Chorliteratur. Klassik, Volkslied, Rock und Pop, Strauß und Webber, von allem etwas. Die Chorleiter haben es nicht einfach, müssen sie doch so flexibel sein, ihren eigenen musikalischen Vorstellungen, Neigungen und Ansprüchen und den Wünschen und Geschmäckern der Sänger und der Zuhörer gleichermaßen gerecht zu werden.
Sehen wir uns das Liedgut des Männerchores in 175 Jahren Liederkranz Murrhardt einmal etwas genauer an. Das Volkslied als Naturlied, Liebeslied, Trinklied, Weihnachtslied zieht sich wie ein roter Faden durch die Liederkranzgeschichte. „Wer hat dich du schöner Wald“, „Das ist der Tag des Herrn“, Grüß mir die Reben, Vater Rhein“, „Hab´ oft im Kreise der Lieben“ oder „Weihnachtsglocken“ werden auch heute noch gern gesungen. „Kirchenlieder und erst recht Kirchenkonzerte sind Sache des Kirchenchors“. Zum Glück haben die Chöre des Liederkranzes dieses gelegentliche Vorurteil selbst eindrucksvoll widerlegt. Wie gern und wie gut singt der Männerchor z. B. „Herr Deine Güte“ von A. E. Grell. Welch schöne Tradition ist auch das Silvestersingen des Liederkranzes in Murrhardts Kirchen. „Bleib bei uns“, Gemischter Chorsatz von J: Rheinberger als Beispiel. So ist auch zu hoffen, dass das Weihnachtskonzert zum Murrhardter Weihnachtsmarkt am 2. Advent in der evangelischen Stadtkirche zu einer Tradition wird. Oder erinnern wir uns nicht gerne an das unvergessliche Konzert in der Murrhardter Stadtkirche im Jahre 1987 zusammen mit den Freunden aus Chateau Gontier und Frome ?
Volkslieder und deren Komponisten, wie Silcher, Arnold, Nagel, Kreutzer, Kuhlau, Sonnet u. a. sozusagen als alltägliche Begleiter des Männerchores. Die Alten Meister sind eher etwas für besondere Anlässe. „Die Nacht“ oder „Im Abendrot“ von Franz Schubert. „O Schutzgeist alles Schönen“ von W. A. Mozart. „Die Himmel rühmen des Ewigen Ehre“ von Ludwig van Beethoven. „Der Jägerchor“ aus dem „Freischütz“ von C. M. v. Weber. Schillers „Glocke“, von Romberg vertont, wird 1921 von einem Gemischten Chor des Schillergaus und 1989 vom Gemischten Chor des Liederkranzes vorgetragen. Nicht zu vergessen die 1848er-Revolutionslieder, wie „Brüder reicht die Hand zum Bunde“ von W. A. Mozart, Vaterländische Lieder, wie z. B. „Das Deutsche Lied“ von C. Attenhofer wurden vor, während und nach dem 1. Weltkrieg gesungen. Die 1938 neu erbaute Turn- und Festhalle, heute unsere alte Stadthalle, hörte anlässlich ihrer Einweihung Lieder einer dunklen Epoche. „Deutsche Hymne“, „Heimatgebet“ und …… Hitlerhymne“.
Und heute? Der Männerchor steht zu seinen Traditionen, d. h. zum Volkslied und zur klassischen Chorliteratur. Man singt als reiner Männerchor, aber mehr und mehr auch im Gemischten Chor leichte Muse aus Schlager, Operette und Musical. Unvergessen in Sängerkreisen „Der Zigeunerbaron“ und „Eine Nacht in Venedig“ von Johann Strauß, die „Berliner Melodien“ von Walter Kollo, die Operettenmelodien von Robert Stolz und nicht zuletzt auch zur Einweihung der neuen Murrhardter Festhalle im Jahr 1998 die komische Oper „Der Postillon von Lonjumeau“ von Adolphe Adam. Schöne und unvergessliche Erlebnisse der Sängerinnen und Sänger zusammen mit dem langjährigen Chorleiter Klaus-Peter Ammer. Allerdings musste man feststellen, daß Singen und Schauspielern auf der Bühne nicht jedermanns Sache ist. Trotzdem werden die Sänger und Sängerinnen des Liederkranzes die große Gala zum 175jährigen Jubiläum, das Musical „My Fair Lady“, das erste große Werk unter der neuen Dirigentin Angela Westhäußer Kowalski, mit Freude und Engagement begleiten.
Man darf nicht übersehen, dass die Männerchöre zwar zahlenmäßig kleiner geworden sind, der Anspruch, den die Sänger an sich selbst stellen aber nicht zurückgenommen wurde. Ganz sicher bietet dieser Ehrgeiz und auch die sehr positive und erwartungsfrohe Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber einem gestandenen Männerchor die Chance, dass sich auch in Zukunft Männer finden, die sich vom traditionellen und modernen Chorgesang und vom kameradschaftlichen Miteinander in einem Chor begeistern lassen.